Shit happens

Michel Butor hat in einem Interview einmal bemerkt: »Die Zeit wird erlebt wie etwas, das man ausscheidet.« Stimmt – gefühlsmäßig. Im Grunde wissen wir aber genau, wer hier wen tatsächlich ausscheidet.

7 Kommentare zu „Shit happens“

  1. Seltsames Bild, das zumindest nach meiner Erfahrung nicht einmal „gefühlsmäßig stimmt“, was immer eine gefühlsmäßige Stimmigkeit auch sein mag.
    Fühlt sich vergehende Zeit, wenn man nicht gerade die Toilette benutzt, tatsächlich für irgendjemanden auch nur ähnlich an wie der Stuhlgang? Ist Zeit ein Exkrement oder lässt umgekehrt die Zeit Exkremente zurück? Wie unterscheiden sich dann diese Exkremente von anderem, da doch alles nur in der Zeit und alles auch nur ein Produkt von Zeit ist? Ist einfach nur alles Scheiße, soll das ‚vornehm‘ ausgedrückt (sic!) werden? Und wer ist eigentlich wer? Ist Zeit eine Person auf dem Klo?

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  2. Das sind schöne Fragen, denen ich mich nicht entziehen will. Der Reihe nach:

    Gefühlsmäßig wahr ist, wenn etwas innerlich wahrgenommen wird, das vom Verstand nicht verifiziert werden kann. Die Angst stimmt, ist real für den Geängstigten, aber hält der Überprüfung „von außen“ nicht stand, wenn keine Bedrohung festgestellt wird (Unterschied von Angst und Furcht). Jeder weiß, was ein Déjà-vu ist, aber nicht, weil er darüber gelesen hätte, sondern weil er es selbst empfunden hat. Das Innere korrespondiert nicht immer mit dem Äußeren, aber darum ist das Innere nicht illusorisch oder falsch. Das Innere ist eine eigene (manche würden sagen die einzige) Domäne menschlichen Erlebens mit begrenztem Zugang von außen.

    Das Schlüsselwort zum Verständnis von Butors Satz ist, glaube ich, ein ganz anderes, nämlich „Verdauung“. Das Ausscheiden ist nur der letzte Schritt des Verdauungsprozesses. Er hätte auch schreiben können: „Die Zeit wird erlebt wie etwas, das man verdaut.“ Aufs Defäkieren kam es Butor vielleicht des Effekts wegen an, den das Wort auf den Leser haben würde (worin er sich offenbar nicht getäuscht hätte). Vielleicht aber hat er es so exponiert herausgestellt, weil das Ausscheiden nun einmal das Sichtbarste und Erlebnisreichste, das heißt an sich schon Exponierteste, am ganzen Verdauungsprozess ist.

    Die Zeit geht durch uns hindurch in einem Akt gleichzeitiger Anstrengung (Verdauung) und Revitalisierung (resorbierte Nährstoffe). Wir bedürfen der Zeit sozusagen als Nahrung für unsere Handlungen (weil sich in ihr als Medium alle Handlung vollzieht). Dass die Zeit im übertragenen Sinne als etwas Dingliches genommen wird, ist nicht neu („Haben Sie kurz Zeit für mich?“, „Wo nehme ich nur die Zeit her?“ usw.) Bei Butor ist sie eben Verdautes. Wie weit man mit diesem Bild hinsichtlich der Vergangenheit als einem metaphysischen Haufen Scheiße kommt, bleibt jedem selber überlassen. Mir ging es darum aufzuzeigen, dass wir nicht die Zeit haben (oder verdauen), sondern dass andersherum die Zeit uns hat (oder verdaut). Am Ende sind wir alle Exkremente, ja, kompostiert und untereinander gleich. Die Zeit ist darum keine Person auf dem Klo (wie auch das Ausscheiden kein Vorrecht von Personen ist und nicht immer und überall auf dem Lokus stattfindet), sondern sie ist der Allverdauer und der Verdauungsprozess – der sie selbst ist – endlos.

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  3. Das sind auch schöne Antworten. Andere hatte ich aber auch nicht erwartet, denn bevor ich mir die Mühe der Fragen machte, habe ich das Vergnügen des ausgiebigen Lesens hier genossen.

    Für die „gefühlsmäßige Stimmigkeit“ oder gar „Wahrheit“ würde ich, wenn ich der gegebenen Erläuterung folge, eher den Begriff der Gewissheit wählen, den Wittgenstein umkreist hat. Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen und Stimmigkeit hat mindestens den Beiklang der Notwendigkeit eines adäquat korrespondierenden Objekts. Gewissheit benötigt das nicht, sie ist eine innere Überzeugung über Sein, die fest ist und keine, zumindest keine intersubjektiv vermittelbare, äußere Bestätigung benötigt.

    Was Zeit ist, das ist sicherlich eine viel kompliziertere Frage als Butors Apercu ausdrücken kann und möchte. Ich wollte seinen Gedanken daher auch weniger auf seine Logik, sondern vielmehr auf seinen inspirierenden Wert prüfen und da scheint mir der Hinweis auf bzw. Ersetzung durch die Verdauung in der Tat viel besser als die oben zitierte Ausscheidung.
    Was mir aber im Bonmot dennoch fehlt, was es etwas langweilig macht, das ist die Rolle der subjektiven Zeit, die nicht durch uns „hindurchgeht“ und die nur neutral verstoffwechselt wird – so verstehe ich hier die mediale Interpretation -, sondern die erst hergestellt wird, die Sinnzeit des Zeitbewusstseins, um an Husserl und Luhmann zu erinnern.
    Mediale Zeit im obigen Sinn ist bloß physikalisch, sie kann chronologisch erfasst werden und „Chronologie schafft (nur) Distanz“ zwischen einer vergehenden Zeit und dem ‚Etwas‘, das sich in ihr aufhält. Zeit aber als vollziehende „Interpretation der Realität im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft“ ist erst der Schnittpunkt, an dem Sein zum Bewusstsein wird und daher das, was eigentlich interessant ist – in ganz strikter Bedeutung verstanden als inter-esse. Da liegt die eigentlich existenziale Dimension, nicht nur die physikalische, die halt so ist wie sie eben ist, ob man nun gerade isst oder auch nicht.

    Das sind aber alles nur Parerga von einem zufälligen Leser, der sich in diesem neuen Gedankenraum interessiert umgetan hat.

    PS.: Der guten Ordnung halber der Hinweis, dass die Zitate im vorletzten Absatz entnommen sind bei Niklas Luhmann: Die Zukunft kann nicht beginnen. Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft. Hg. v. Peter Sloterdijk. Ffm: Suhrkamp 1990, Bd. 1, S. 119-150.

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  4. Es fehlt beim bibliographischen Hinweis leider der Titel des von Sloterdijk herausgegebenen Bandes, der da lautet: Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft.

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  5. Die Zeit betreffend sind wir einer Meinung; aus Butors Satz haben wir gezogen, was aus ihm zu ziehen ist, scheint mir. Ich fühle mich insofern ertappt, als auch ich den Satz wenig bemerkenswert finde, aber doch eines Einwands würdig: weil er – ich muss es wieder schreiben – gefühlt richtig ist, aber die tatsächlichen Verhältnisse einfach umdreht. Der Melancholikus kann das nicht mit ansehen, und muss darauf bestehen, dass der Zahn der Zeit an uns nagt, niemals umgekehrt. Inspiriert war mein Einwand nicht, doch lag er genau in meinem inter-esse – ‚getriggert‘ würde man heute vielleicht sagen. Dem Monologisten mangelts naturgemäß an Disziplin.

    Ihre Hinweise zu Wittgenstein und dessen Überlegungen zur „Gewissheit“ nehme ich dankend entgegen; die PU warten lange schon auf meinem Nachttisch. Auch scheint mir Ihre Lösung sinnvoll. Gleichwohl, vielleicht wieder undiszipliniert, mache ich mich nicht irre wegen des wuchtigen Begriffs „Wahrheit“, noch gestehe ich der Aussagelogik die vollständige Vereinnahmung eines Wortes zu, das im Alltag unverzichtbar bleibt. Oder soll man, sich dem Verdacht der Lüge ausgesetzt sehend, sagen: „Ich spreche mit Gewissheit!“? Nein, man muss entgegnen: „Ich sage die Wahrheit!“, ganz gleich, ob der in Abrede gestellte Satz formal wahr oder falsch war. Falls es Sie interessiert, ergänzend dazu noch der Hinweis auf Adornos Stück Nr. 43 der Minima Moralia, „Bangemachen gilt nicht.“

    Über Ihre Einlassungen freue ich mich sehr; die von unablässigen Selbstgesprächen verbrauchte Luft dieser Räume kann den frischen Atem neuer Stimmen zweifellos vertragen.

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    1. Statt auf Adorno zu verweisen, liegt es bei Ihrem Wahrheitsbegriff näher, Ihrem berühmten Vorläufer den Vorzug zu geben: „Nihil ergo erit falsum, quia quidquid est, verum est.“ (Augustinus, Soliloquien II, 5, 8). Ich würde das mit: „Nichts also kann falsch sein, denn was auch immer ist, das ist wahr“, übersetzen und das Futur damit philologisch nicht ganz korrekt unterschlagen. Dies ist zwar an dieser Stelle nicht Augustinus‘ letztes Wort und es stürzt seinen Dialog über die Wahrheit hier in tiefe Verwirrung („nam nusquam tantam caliginem pertuli“ (ibid., 6, 9)), das Diktum hat aber nicht nur eine überzeugende emphatische Dimension, sondern vor allem auch eine Ihnen wahrscheinlich entsprechende ‚Logik‘, da es das Sein gegenüber der Aussage über das Sein privilegiert. Was falsch ist, ist nicht und nichts kann nicht sein, nur gesagt werden, das aber logisch völlig korrekt ergo wahr. Wie das Sein dieser falschen wahren Sätze dann ontologisch erkärt werden könnte, das wäre dann ein weiteres, in der Sprache selbst nicht lösbares Problem.
      Letztendlich würde damit die wahre Wahrheit sprachlich zu einer expressiven Geste der Unaussprechlichkeit. Aber das wäre ja nicht unbedingt schlecht, denn das würde das echte Sprechen vom Zwang der Aussagenlogik entlasten und zur Aufrichtigkeit befreien. Die allerdings, wie jede echte Freiheit, viel schwerer zu verwirklichen ist als die Konformität mit dem Zwang.
      Ihre Freude freut mich.

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  6. Sie demonstrieren eindrücklich den Unterschied zwischen einem Archivar und einem Bibliothekar: Der Bibliothekar bringt zwar immer das geforderte Buch, weiß dann aber (kraft seines Amtes) nur wenig darüber zu sagen; Sie hingegen bringen gelegentlich auch mal das falsche, wissen aber stets sehr schön und erhellend darüber zu sprechen. Wären Sie nicht Archivar und würden tun, was ein Archivar eben tut, wäre ich Ihnen direkt böse, mir mit Ihren Monologen mutwillig den Rang abzulaufen.

    Etwas voreilig haben Sie von meinem Modus Operandi, meiner Verfahrensweise mit dem Begriff der Wahrheit, auf meinen Wahrheitsbegriff selbst geschlossen. Verfolge ich Ihre Untersuchung auch mit Vergnügen, so muss ich doch bezüglich ihres Inhalts jede Verbindung mit meinem Denken zurückweisen. Nicht stelle ich das Sein über die Aussagen über dasselbe (das erscheint mir sinnlos, wo jenes von diesen durchaus abhängt), sondern ich stelle die Notwendigkeit des Sprechens (und Verstandenseins) über den Luxus der Aussagenlogik, also die Praxis über die Theorie. Dass mir darüber nur niemand unruhig wird; oft genug erhält die Theorie den Vorzug! Jedoch dort, wo man mir das ungebrochen brauchbare Wort ‚Wahrheit‘ für unbrauchbar zu erklären sucht, lehne ich solches Ersuchen ab: das Wort bleibt reserviert für die Menschen. Um „das echte Sprechen vom Zwang der Aussagenlogik (zu) entlasten“, mag es genügen, sie nicht weiter zu berücksichtigen. – Mit meiner Idee von ‚Wahrheit‘ (mit überlebensgroßem W) hat das aber so wenig zu tun, wie mein Verweis auf Adorno dessen Wahrheitsbegriff in die Pflicht nehmen wollte – auch handelt davon Nr. 43 der Minima Moralia allenfalls am Rande.

    Meine Soliloquies beerben natürlich nicht das Werk des Augustinus. Sie stehen im Zeichen der shakespearschen Figuren, die im desillusionierten Selbstgespräch zu sich finden. Dies „Nosce te ipsum“ wäre dann auch die „eigentlich existenziale Dimension“ von Wahrheit, also das, „was eigentlich interessant ist“, wie Sie es noch vom Umgang mit dem Zeitbegriff sich wünschten. Ich hoffe daher, Ihnen in dieser Sache entgegenzukommen.

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