Ingeborg Bachmann – Malina Bachmanns 1971 veröffentlichter und einziger vollendeter Roman. Er handelt von der Liebe einer Frau zu einem, vielleicht zu zwei Männern, und dem unaufhaltsamen Zerrinnen dieser Liebe. So intellektualisiert und eigen Bachmanns Stimme auch war, so ungeheuer aufrichtig klingen bei ihr Verzweiflung und Leidenschaft. Der Stil ist wirr, sprunghaft und überkorrekt; neurotisch wie die namenlose Erzählerin (resp. die Autorin); aber nicht so, dass man ihn als postmodern bezeichnen müsste. Dennoch könnte man der Form wegen irrtümlich annehmen, Malina sei bloß die erbitterte Abrechnung oder das jammervoll-lyrische Klagelied einer labilen Frau, die an ihrer idealisierten Liebe zu den Männern scheiterte. Tatsächlich handelt es sich hier um einen konservativ erzählten und ausgezeichnet komponierten Roman mit zärtlichen Untertönen, der im Hinblick auf sein starkes Ende mindestens zwei gleichermaßen plausible Lesarten zulässt. Mit Sicherheit einer der schönsten deutschsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts. ★★★★★
Arthur Machen – The Great God Pan Die fast perfekte Horror Story. Stil und Pacing sind vollkommen, möchte ich sagen. Was ich in der Literatur der Angst an alten und neuen Meistern überschaue, fällt mir niemand ein, der Machen hinsichtlich des exakten Tons und der richtigen Geschwindigkeit das Wasser reichen könnte. Gegen Machen wirkt Blackwood geschwätzig als hätte er an Logorrhö gelitten und Lovecraft wie ein Besessener, der seine Figuren besser ausschließlich in indirekter Rede hätte sprechen lassen sollen. The Great God Pan ist ein Musterbeispiel unheimlicher Kurzprosa, ein Text, den Stephen King noch über ein Jahrhundert nach seiner Veröffentlichung für die ›wahrscheinliche beste englischsprachige Horror Story aller Zeiten‹ hält, während Borges und Lovecraft sich darüber einig waren, Machens Höhepunkt finde sich an anderer Stelle seines Werks. So oder so, ein Fest! To the great god Nodens! ★★★★★
Robert Walser – Aufsätze Nicht mehr die Schulaufsätze Fritz Köchers, sondern in offizieller Urheberschaft Walsers vereint der Band Kurzprosa aus den Jahren 1905 bis 1913, Walsers Jahren in Berlin, ausnahmslos Texte, die bereits zuvor in verschiedenen deutschen Zeitschriften veröffentlicht worden waren. Nichts Schülerhaftes steckt in diesen Aufsätzen, aber Kindlichkeit, stilistische Meisterschaft, Mondscheintrunkenheit, Ironie, Bosheit, Lebensklugheit und nicht zuletzt Liebe, wie schon Kurt Tucholsky es bemerkte, ganz viel Liebe. Immer öfter sehe ich die Parallelen zum Werk Kafkas und fühle manchmal, dass die Lektüre Kafkas weniger erschüttert, leichter zu ertragen ist. Favoriten: Brief eines Mannes an einen Mann, Frau und Schauspieler, Gebirgshallen, Der fremde Geselle, Reigen. ★★★★☆
Stefan Zweig – Schachnovelle Nach ca. 16 Jahren habe ich die vielleicht berühmteste Novelle deutscher Sprache wiedergelesen und, langweilig aber wahr, mein erstes Urteil größtenteils bestätigt gefunden: Unterhaltsam, hübsch, beispielhaft, vergessenswert. Also wie für den Schulkanon gemacht. Vielleicht weil ich sie gründlich vergessen haben werde, lese ich sie (deo volente) in 16 Jahren erneut. Die verzichtbare Kurzrezension gibt’s inklusive, klar! ★★★☆☆
Rüdiger Safranski – Das Böse oder Das Drama der Freiheit Auf den von ihm so oft bewanderten Pfaden der abendländischen Geistesgeschichte hat S. sich in diesem Buch auf die Suche nach dem Bösen gemacht. Was hat er dabei gefunden? Der Klappentext verrät es schon: Das Böse ist der Preis der Freiheit. Freude macht das Buch, weil es alle Vorzüge eines Safranski-Büchleins aufweist: Klarer Stil, eingängig doch anspruchsvoll, charmant, klug. Betrübt macht das Buch, weil es das Böse sucht, wo es sich wohl nur selten blicken lässt: In deutschen und französischen Studierzimmern. Trotz Sade, Bataille, Hitler und Eichmann; trotz Großinquisitor, Mephisto und den einschlägigen alttestamentarischen Bibelstellen ist dieser Essay mehr apollinisch als dionysisch geraten. Dies geschieht vielleicht notwendig, wenn Aufklärung den düsteren Erfahrungshorizont aufklärt: Die dunklen Wolken ziehen ab, der Himmel klart auf. ★★★★☆
C. G. Jung – Erinnerungen, Träume, Gedanken Im Frühjahr 1957 setzt sich Aniela Jaffé mit dem 81-jährigen Jung zusammen, um dessen Autobiographie gemeinsam ins Werk zu setzen. Vielleicht weil es durch Gespräche entstanden ist, vielleicht weil Jung es so wollte oder nicht anders konnte, charakterisiert die Lektüre, dass wir niemals dem letzten Urteil des Analytikers entkommen: Jedes Ereignis, jeder Traum, jede Begegnung wird gedeutet, gewogen und bewertet. Was noch nicht Symbol ist und Bedeutung hat, das wird mit Bedeutung aufgeladen. Er ist kreativ, aber er ist kein Künstler und macht keine Kunst. Jung ist Arzt und macht Inventur. Als Anthropologe, Ethnologe, Theologe, Historiker und Philosoph ist er dabei jeweils gescheitert, scheint mir, und hat dennoch eine Lücke in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts eigenhändig geschlossen. ★★★★☆
Philip K. Dick – Variante zwei Band 2 der fünfbändigen Sammlung sämtlicher 118 SF-Geschichten PKDs. Vollständigkeit besticht naturgemäß durch breite Mittelmäßigkeit einschließlich der schöpferischen vertikalen Ausreißer. Ärgerlich ist, dass selbst den schlechten Stories oft ganz wunderbare Einfälle zugrunde liegen, aber als lieblose und hastig hingeworfene Skizzen enden mussten. Ein Beispiel: In James P. Crow beschreibt D. eine Zweiklassengesellschaft aus Robotern (Elite) und Menschen (Plebs) und stattet, zum Zweck sozialer Spannungen, die Maschinen mit Snobismus und Verachtung für alles Organische aus. Gleichzeitig heißt es jedoch, dass sie ohne emotionale Beeinträchtigung denken könnten. Einerseits streng logische Computer, andererseits allzumenschliche Herren-Maschinen – psychologisch macht das Ganze keinen Sinn und der aufmerksame Leser fühlt sich schlimm betrogen. SciFi nimmt sich genremäßige Freiheiten heraus, die sie anderswo einsparen sollte, kurz: wer Aliens serviert, kann nicht auch noch Kobolde auftischen. ★★★☆☆
Daniel Keyes – Blumen für Algernon Show, don’t tell. Eine der drei essentiellen Maximen für das Schreiben guter Romane. Wer überall erzählt statt die Figuren regelmäßig lebendig werden und für sich sprechen zu lassen, der schreibt fast notwendig einen blutarmen und über weite Teile redundanten Roman. Keyes’ Flowers for Algernon – ursprünglich eine Erzählung – ist ein solcher Roman geworden. Die Geschichte um den schwachsinnigen Charles Gordon, der durch eine Operation zum Genie wird und letztlich zurückretardiert, lebt (einzig) von einem guten Plot und krankt am mangelnden Können des Autors. Hinzu kommen allerlei falsche, dem Forschungsstand der 60er geschuldeten Annahmen zur Rolle von Intelligenz; laienpsychologische Passagen, die dem Bildungsstand des Autors zuzuschreiben sind; und, schlimmer als alles andere, ein gänzlich unausstehlicher Protagonist, dessen Schicksal den Leser kalt lässt. ★★☆☆☆
Michael Herr – Dispatches Von der Kritik als bestes Buch bezeichnet, das je über den Vietnamkrieg geschrieben worden ist, und von zahlreichen Schriftstellerkollegen hochgeschätzt, berichtet Dispatches, was Herr als Kriegsberichterstatter zwischen ’67 und ’69 in Vietnam erlebte – und auch was er nicht erlebte. Nämlich ist sein Journal mehr als nur stellenweise fiktiv; der Autor schreibt in situ, obwohl er nur Gehörtes wiedergibt; manche Charaktere und ganze Dialoge sind frei erfunden; Geschehnisse gerahmt, stilisiert, dramatisiert. Mindert dies den Wert des Buches? Keinesfalls. Die Essenz Vietnam ist wie auf einem Negativfilm festgehalten und die Absurdität dieses Krieges – vielleicht die aller Kriege, doch ganz besonders dieses Krieges – tritt dem Leser sukzessive grell vor Augen. ★★★★★
Jack Ketchum – Stranglehold Auch nach dem vierten Roman JKs könnte ich nicht mit Gewissheit sagen, ob wir es bei ihm mit einem außergewöhnlichen oder im Grunde durchschnittlichen Schriftsteller zu tun haben. Anders als in den Romanen Kings ist die Wirklichkeit nicht schwarz und weiß: für JK ist sie nur schwarz. Seine Grausamkeit fasziniert, weil sie sich nie ganz des so naheliegenden Sadismus überführen lassen will; Ketchum geht es offenbar um mehr, aber diesem Mehr bleiben seine Geschichten stets das Wesentliche schuldig. So fragt sich während der Lektüre und auch hinterher der noch nicht völlig abgestumpfte Leser, wie viel Voyeurismus er mitgebracht hatte, um diese neue Enttäuschung seiner vornehmeren Lektüre-Erwartungen einmal mehr ermöglicht zu haben. ★★★☆☆
Natsume Sōseki – Botchan Don’t judge a book by its content: Anfang des 20. Jahrhunderts, gegen Ende der Meiji-Periode, studiert ein junger Mann in Tokio Mathematik und Physik, um anschließend in einem verschlafenen Provinznest ebendiese Fächer an einer Mittelschule zu unterrichten. Weder ist der Protagonist außergewöhnlich, noch ist es die Schule, noch etwas, das ihm dort widerfährt. Klingt langweilig? Find ich auch. Und doch ist dieses Buch derart amüsant, charmant und eingängig geschrieben, dass der Leser es unversehens ausgelesen hat und in seiner schönen Einfachheit ihm noch lange in Erinnerung bleiben wird. Herr Natsume war ein großartiger Erzähler und ein Stilist ersten Ranges. (Ohne einen Vergleich zu haben, schien mir die alte englische Übertragung von Yasotaro Morri ganz ordentlich zu sein. Diese gibt’s hier kostenlos für den Kindle). ★★★★☆