Schon dunkel? Wie spät ist es?
// tastet blind nach dem Smartphone
Sieben? Zehn… nein, elf Stunden geschlafen! Und trotzdem müde. Dieser Schlaf am Tage– Wie still es ist. So still – schön. Im Bett zu liegen und auf das Rechteck aus Licht zu schauen, das auf Bernhard und Blanchot im Bücherregal fällt und darunter noch auf Camus, Canetti und Carolls Alice, das ist auch schön. Ganz oben steht Jahnns Romantrilogie Fluß ohne Ufer im Schuber, aber das Licht der Straßenlaterne erhellt nur das Wort Ufer. So ein Bett ist doch ein Ufer, oder? Jenseits des Betthorizonts blicken wir in die wiedergefundene alte Umgebung, während wir im Rücken noch das Land der Träume spüren.
// trinkt einen Schluck Wasser aus einem Glas auf dem Nachttisch
Die Wohnung wartet immer schon auf einen, sobald man aufwacht. Wohnung. Gewohnheit. Mein Gott, wie schön die deutsche Sprache ist. Also ist die Gewohnheit ein sich häuslich Einrichten in der Handlung. Und andersherum ist die Wohnung das organische Ganze entstanden aus den Myriaden solcher in ihr vollzogener Handlungen über viele Jahre. Die Tür zur Küche dort ist eins geworden mit den tausenden Malen, da sie geöffnet wurde; sie weist über sich hinaus in die Küche und weshalb sie geöffnet wird. Diese Assoziation hat nie die Ursachen (z. B. Hunger) oder die Folgen (z. B. satt) exklusiv im Blick, sondern stets die gesamte Interdependenz, die sich vielleicht zusammenfassen lässt als Perpetuierung von Sein. Na ja, Unfug. So eine Wohnung ist aber wirklich die dritte Haut des Menschen. Moment, das ging noch anders… – Architektur! »Architektur ist, nach der Kleidung, die dritte Haut des Menschen.« Ist das nicht ein dummer Satz? Wenn Architektur die dritte Haut des Menschen ist, müsste nach der eigenen Metaphernlogik das Schneiderhandwerk die zweite sein, nicht Kleidung. Später mal googeln, wer sowas sagt.
// dreht sich auf die andere Seite
Dieses Schwindelgefühl vom langen Liegen auf derselben Seite, was ist das? Das soll mir mal einer erklären. Wird das schlimmer mit der Zeit? Vielleicht solltest du aufstehen. Aber schön ist’s hier. Friedlich. Warum bist du so glücklich, im Dunkeln zu liegen und in die Stille hineinzuhorchen? Nutzlos für jedermann und nutzlos für dich selbst. Meinte das Rousseau mit seinen Rêveries? – Was hast du übrigens geträumt? Ich erinnere mich nicht. Mal aufstehen und nachschauen, was die Welt auch heute nicht zusammenhält? Das schwarze Rechteck des Bildschirms auf dem Schreibtisch lockt schon mit Ausblicken auf die weite Welt da draußen. Windows ist schon treffend benannt: Ein Fenster nach draußen. Hindurch scheint das grelle Licht des Internets. Diese kalte Sonne. Wenn ich so drüber nachdenke: Ich glaube, ich habe einen schweren Sonnenbrand. Vielleicht lässt du den Computer heute Abend ausgeschaltet, wie wäre das? Wäre das nicht ganz wunderbar? Du bleibst hier einfach liegen und bewunderst die ganze Nacht lang das helle Rechteck auf den Büchern. Was jenseits passiert… – Jenseits! Wenn wir dies Wort doch nicht schon in Beschlag genommen hätten für das Reich der Toten! Mit dem Internet haben wir endlich das wirkliche und faktisch vorhandene Jenseits; kein spekulatives Leben nach dem Tod, sondern ein tatsächliches Leben neben dem Leben; eine echte Geisterwelt. Man spricht schwülstig von Avatars, aber gemeint sind doch nur die Geister, die wir sind. Im Internet führen wir Geisterexistenzen, diskutieren Geisterprobleme, unterhalten Geisterromanzen. Man kann vom Virtuellen nicht mit Recht behaupten, es sei unecht oder sogar unwirklich, aber in jenem besonderen Sinne paranormal ist es doch, oder? Unheimlich, dieses Internet. Weil da immer etwas passiert, das mehr gespenstisch als menschlich ist. So viel lässt sich nach 16 Jahren intensiver Internetnutzung und erschöpfender Geisterexistenz behaupten. Anfangs war man noch ein munterer Poltergeist, ganz berauscht von der Freiheit der Anonymität, und schließlich nur ein armseliger und im wirklichsten Sinne transparenter Klagegeist, der traurig mit den Ketten rasselt. Man fühlt, wie substanzlos im Jenseits alles ist. Wie beliebig. Wie kontingent. Wie flüchtig, flüchtig, flüchtig. Obgleich das Internet ein Gedächtnis hat (oder ist?), das unerbittlich erinnert, was aus Gründen des guten Geschmacks großzügig vergessen werden müsste. Trotzdem gibt es keine Anfänge im Web und daher ist alles in medias res. Gleichzeitig gibt es keine Mitte. Man fühlt sich exiliert, wie am Rand von allem, aber dieser Rand ist überall im ortlosen, u-topischen Internet; man selbst ist kein Verstoßener, das wäre eine süße Illusion, sondern ein vollunwertiges Mitglied der Nichtgesellschaft. Mein Gott, dass wir uns heutzutage wirklich noch darüber aufregen, wie Arbeitsvieh behandelt zu werden, wie Fabrikware und vergängliche Güter! Digital ist man weniger. Viel weniger, fast nichts. In Kauf nehmen wir es trotzdem, und das munter. Warum? Weil hier die Herabsetzung alle gleichermaßen trifft und unpersönlich ist. Im modernen Jenseits sehen wir Platons Ideenlehre als Hölle reinszeniert: Eine durch und durch sinnleere unaufhörlich wachsende und wuchernde Wüste in Texten und Bildern, die wir, nur weil wir nebenher noch leibhaftige Menschen sind, selber zu kontextualisieren vermögen. Aber wir verlieren den Überblick, den Sinn fürs Diesseits – ist es nicht so? So ist es. So war es immer mit den großen Technologien; der Fortschritt schreitet vorneweg, und der Mensch, auffallend energisch-zuversichtlich sich gebärend, doch schamhaft insgeheim, hinkt hintendrein. Das Mittel wird zum Zweck und der Zweck zum Selbstzweck. Wie Beckmann in Borcherts Draußen vor der Tür ergeht es mir; ich fühle mich draußen, obwohl ich doch drinnen sein müsste. Eigentlich bin ich drinnen, dachte ich, oder hatte es jedenfalls immer angenommen. Ein Irrtum. Im Jenseits ist alles umgekrempelt: Total exponiert und darum unsichtbar; total vernetzt und darum einsam; völlig frei und darum stets auf das Eigene zurückgeworfen; überall und nirgends; zersplittert und noch für jeden virtuellen Zwischenraum zu groß. Auf der globalen Bühne des sogenannten WehWehWeh!, auf dieser Bühne aller Bühnen, verlieren sich die Stimmen als blasse Stimmchen mit Likes und Followern und allem Drum und Dran im jenseitigen Einerlei. Die Geister ähneln sich so stark auf Grund ihrer schnöden Durchsichtigkeit. Auf Grund ihrer Isolation und Namenlosigkeit, an der auch Selfies und Klarnamen nichts je ändern werden. Im Internet kann man nicht wohnen, ganz unmöglich, aber es wird doch immer wieder versucht. Besser virtuell verbunden als real abgetrennt, so die Überzeugung. Im Jenseits wird mit Geisterhoffnungen viel Geld verdient. Das heißt, mit ihrem lebenswurzelnden Teil, der sich nach Anschluss sehnt.
// trinkt einen Schluck Wasser
Erinner dich nur an jenen Mittwochmorgen, an dem du schlaflos aber hellwach und nüchtern wie der Oktobermorgen selbst auf twitch.tv den Kanal einer reizenden jungen Dame entdeckt hast; rotblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, blassblaue Augen, frisches Lächeln; die weiter nichts tat, als ihren Morgenkaffee zu trinken und sich gleichzeitig mit 12 Usern zu unterhalten; diese schreibend, jene ohne Scheu in die Kamera blinzelnd. Wir Geister starrten sie an als wäre sie ein Fabelwesen (bei Gott, das war sie) und sie ließ sich unbeirrt anstarren. Sie erklärte uns die Form der Amygdala mitsamt ihren 13 Einzelkernen. Gut machte sie das. Ungewohnt anständig ging es zu in dieser kleinen Oase des sonst so schmuddeligen Internets, in dem für gewöhnlich nackte Haut Intimität ersetzen muss, aber eine unbestimmte Sehnsucht war doch greifbar, vielleicht war es die eigene. Eines der Gespenster beschwerte sich kleinlaut, sie, die Göttliche, habe nicht aufgepasst, als es sein Geburtsdatum im Chat kundtat (pah, als hätte es eins!), woraufhin sie ruhig und mit unerschütterlicher Höflichkeit erklärte, sie könne leider nicht mit allen gleichzeitig sprechen. Wie wahr, wie wahr. Die nicht weniger höfliche, fast unverbindliche aber 12 arme Seelen bestürzende Ankündigung, sie werde in 15 Minuten den Stream beenden und zur Arbeit gehen müssen, ließ dich jäh erschaudern und das Weite suchen. Du hast dir nicht erst vorzustellen brauchen, wie es wohl wäre, wenn zwar der Stream, aber, das kann ja sein, nicht auch der Chat offline wäre; vier, fünf gleichermaßen verlorene, einander nichts zu sagen habende gestaltlose Residuen, am Ende ein einziger gespenstischer Rest, draußen vor der Tür. Nichts wären wir ohne sie gewesen – nichts. Niemand denkt sich etwas dabei, nicht wahr? Was immer man entfernt sozial nennt, hat kein Niveau, das man unterschreiten könnte. Das Soziale konvergiert mit dem Sein an sich: Hauptsache leben, ganz gleich, wie; Hauptsache in Gesellschaft, gleichviel in welcher und mit welchen Mitteln.
// dreht sich auf die andere Seite
Horch, es regnet! Wie selbstvergessen trommelt der Regen aufs Dach. Dies Geräusch wird nie verfehlen, dich glücklich zu machen. So könnte man überwintern. Lange schlafen, so lange wie irgend möglich, abends einkaufen, die Nacht hindurch denken und lesen und wieder denken. Weil man denkend gespannt ist von hier nach dort, wo und wann auch immer dort ist, und stets auf etwas Konkretes bezogen. Oder kann man etwas Allgemeines denken? Ich denke, das kann man nicht. Wer allgemein denkt, denkt nichts. Und im Internet ist es nämlich genau umgekehrt: Von dort her, jenseits, werden wir beansprucht (auch jetzt, in diesem Augenblick), und online befinden wir uns im Allgemeinen, sind diesem Allgemeinen ausgeliefert (wie im echten Leben, bloß mit Suchmaschine). Man hat noch gar nicht begriffen, was das Internet eigentlich ist, und was es mit den Menschen macht. Das heißt, wenn es schon kein Mittel mehr ist, sondern allmählich und leicht unbemerkt hineinwächst in die sozialen Beziehungen, in die Gewohnheiten, den Alltag. Wenn es schließlich vollständig verwachsen ist mit dem eigenen Lebensgewebe und allenfalls noch mit einem Skalpell sich herausschneiden ließe. Gelingt auch das nicht, wird man zum Gespenst. Ob nun zu Hause vor dem Computer oder in der U-Bahn am Handy. Zwar sprechen wir von Smombies, aber das ist wieder, fast will ich sagen: wie immer, nur von außen gesehen. Wer sich einmal in diese bildschirmilluminierten Marmorstatuen hineinversetzt, die in der Stadt allenthalben sitzen und stehen, über ihre steinerne Maske der Apathie hinweg sich hineinversetzt, erkennt in ihnen die Gespenster, der fühlt ihre tiefe Geistersehnsucht und heiße entsagungsvolle Leidenschaften. Es sind gerade keine entmenschlichten Untoten, sondern im Gegenteil entwirklichte, für ihre Umgebung nunmehr unerreichbare Menschen – Geister. Was im Diesseits so gänzlich zurückgenommen ist, wird im Jenseits umso dringender eingefordert. Denn das Gespenst erinnert sich an die Geborgenheit menschlicher Wärme mit seinem diesseitigen Leib, und sucht und sehnt und fordert und schluchzt, aber es hilft alles nichts: keiner berührt es. Es will geachtet, ausgezeichnet, gestreichelt, umsorgt, verstanden und geliebt werden – vergeblich. Es versteht noch nicht, dass es an der Online-Schwelle beim Hinübergehen seine Personenrechte abgelegt hat, denn der User ist keine Person. Und die Online-Community ist keine Gemeinschaft, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Dieser neue Sinn von Gemeinschaft; diese Weltpremiere von Unpersonen, die sich gewohnheitsmäßig als Personen fühlen und wahrhaben, und die Kränkung, die in solcher Diskrepanz liegen muss: haben wir das alles schon begriffen? Ich glaube, nein. Erstmals kann sich der Mensch mit einem Menschen verwechseln, weil er online etwas anderes ist. Ist das übertrieben gesagt, dramatisiert? Nein, das ist kühl gedacht, Sonnenbrand hin oder her. Die konstitutive Erfahrung der eigenen Webpräsenz: online oder offline, für das Internet spielt das keine Rolle. Der User ist stets überzählig wie das berühmte fünfte Rad am Wagen, doch auch im Zweifelsfall ersetzbar wie ein loser Knopf am Hemd. Ganz deutlich wird es aber dort, wo die armen Gespenster sich mit gleicher Sehnsucht suchen, einander unter gleichen Absichten annähern und mit dem denkbar einfachsten gemeinsamen Wunsch einander entgegenträumen – es ist fast immer eine soziale Katastrophe. Tausend Ungewissheiten schüren ihre schmerzvolle Verzagtheit, tausend Missverständnisse ihre leisen Zweifel. (Körper- und Gesichtslosigkeit; was das alles impliziert! Man denkt nie genug darüber nach.) Schließlich streifen sie einander so liebevoll es irgend geht und hoffen, so ihrer Verdammnis gemeinsam zu entgehen. Selten gelingt es.
// reibt sich geistesabwesend die Stirn
Einfach offline bleiben. Aber wo nun die halbe Welt online ist? Ich bin isoliert, aber ich bin es nicht allein. Ich bin nicht besonders asozial, ein bisschen nur, auf meine Weise, zum Beispiel jede Gruppe flüchtend, als wäre es eine Gruppe Kannibalen (was sie im übertragenen Sinne auch stets ist). Dennoch fühle ich mich wie Sebalds Austerlitz, »wie ein zum Fürchten häßlicher, unberührbarer Mensch«, und muss mir gleichzeitig eingestehen, dass es nicht wahr ist; muss mich ermahnen, dass es noch zu lieben gilt, irgendwen oder irgendwas. Hauptsache dieser sich ausbreitenden Kälte Einhalt gebieten. Brücken bauen oder einen Übergang finden, das ist die Hauptsache. Die Bücher im Regal sagen es, beschwören es, beweisen es: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, und wer ans Verstummen denkt, ist bereits tot.
Eine letzte Mahnung noch: Lass doch dein Herz mal sprechen, es spricht so selten!
// steht auf, kleidet sich an, kocht einen Kaffee und setzt sich an den Computer