Der Philosoph pflegt regelmäßig intimen Umgang mit abstrakten Problemen, die jeder haben kann, wenn er sie versteht. Dass die philosophisch unbeschwerten Mitmenschen die Probleme verstehen, die sie noch nicht haben, um sie dadurch zu erlangen, ist im Wesentlichen die Aufgabe des Philosophen. Nietzsche sah ihn zum »Arzt der Kutlur« approbiert, was nicht falsch ist, aber der Philosoph ist kein Arzt, der seinen Patienten im Zweifelsfall nach Hause schickt, wenn dieser gesund scheint. Nicht nur gibt es kein richtiges Leben im falschen (Adorno) – der Philosoph kennt geradezu kein richtiges Leben. So will es die Lust des Denkens und das raue Klima des philosophischen Problemexils. Exil heißt: Flucht in die Idee und lebenslanges Asyl bei den alten Griechen. Der Philosoph lebt in seinen Philosophemen und vermittels seines Problembewusstseins. Zwar ist das Schneckenhaus seiner Seele gewachsen aus Abstrakta, aber gewachsen ist es nur aus Liebe zum Konkreten. Er ist nicht so sehr in der Welt zu Hause, sondern (und nicht ohne Absicht) vielmehr in der Welt seiner Begriffe. Gómez Dávila nennt ihn einen »in der Zeit gefangenen Engel«. Was aber ist ein Engel? Ein Monster mit Flügeln: Der Philosoph, wo er ganz Philosoph ist, verliert die Deckung seiner Gattung. Den Grenzen seiner Identität aber entrinnt er nicht: Besonders dort, wo sein Denken sich für universell hält, ist es reiner Ausdruck seines individuellen Wesens. (Man verschweigt ihm diesen Umstand besser, um ihn nicht zu kränken.) Der Philosoph demonstriert eindrucksvoll, wie unvernünftig die Vernunft in hoher Dosis ist: Wenn, wie Sloterdijk sagt, Vernunft (paraphrasiert; Urteilskraft ist das Wort, das er gebraucht) die Fähigkeit ist, eine Prioritätenliste zu erstellen, so steht die Liste beim Philosophen selbst stets an oberster Stelle und wird zum Katalog. Diese Unvernunft lässt sich als Phänomenologiesucht beschreiben, aber nicht kurieren. Seine Gestalt im Alltag, also außerhalb akademischer Aktivitäten, erinnert an die eines Handelsvertreters für Haushaltswaren, und entsprechend begegnen ihm die Zeitgenossen; die meisten Türen bleiben ihm verschlossen, denn Wahrheit ist etwas, von dem jeder immer schon genug hat. So lebt der Philosoph einmal mehr nicht konkret von seinen Ideen, sondern sie leben von ihm und durch ihn, ihrer Nachfrage und Nützlichkeit ungeachtet. Sie sind seinetwegen und er, als Philosoph, ist ihretwegen.
Kategorie: kurze
Paranoia
Wenig einfühlsam der Psychiater, vermutlich ein Franzose,¹ der den Begriff Verfolgungswahn neben den der Paranoia gestellt hat. Wer bloß fiebert, verfolgt zu werden und also auf der Flucht ist, der darf einer inneren Logik nach noch leise hoffen, davonzukommen. Dasjenige, vor dem zu flüchten wäre, ist jedoch omnipräsent. Was überall ist, das hat keine Topographie; dem ist geographisch nicht zu entkommen. Das Gefürchtete liegt nie exklusiv hinter² dem Paranoiden, sondern entweder als etwas vage Antizipiertes vor ihm (zeitlich), oder als akut Empfundenes um ihn (räumlich). Paranoia bedeutet im Kern: Wohin ich auch gehe, sie warten schon auf mich. Erwartungs- statt Verfolgungswahn.
1 In Meyers Konversations-Lexikon von 1905 findet sich unter ›Verfolgungswahn‹ der direkte Hinweis auf ›Délire de persécution‹.
2 Der gehetzte Blick über die Schulter, der wirklich bei Paranoiden zu beobachten ist, mag die Assoziation des Verfolgtseins eingegeben haben. Es gibt jedoch nur einen Grund, warum hinter die bedrohlichste aller Präpositionen ist: ohne den Kopf zu wenden, liegt hinten stets außerhalb unseres Gesichtsfelds. Der Blick zurück bedeutet für den Paranoiden lediglich eine kurze Unterbrechung seiner Wachsamkeit vorn; tatsächlich schafft er sich für diesen kurzen Schreckensmoment bloß ein neues Hinten, nämlich was zuvor Vorn gewesen ist. Er wünschte, er wäre Argos – ohne zu ahnen, dass er dann das Unsichtbare fürchtete.
Placebo
Dem Gros der militanten Belletristikverweigerer wäre damit geholfen, der gefürchteten fiction eine für ihre Nerven so heilsame non-fiction voranzustellen. Ein Vorwort wie ein Beipackzettel, mit knappen Hinweisen, wann und wie die bittere Prosapille einzunehmen sei; Risiken, Nebenwirkungen, Kontraindikationen usw. Vor allem aber müsste von ihrer Wirkung die Rede sein: Von Konzentrationssteigerung und Kreativitätsförderung, von Relaxation und lektüreinduzierter Tiefenentspannung, von autogenem Wortschatztraining, vom inhärenten sprachtherapeutischen Wert, von der durch die Lektüre verursachte Zunahme der wichtigen Gammewellen im Gehirn – potenzsteigernd, (re-)vitalisierend, alzheimervorbeugend, krebshemmend. Ganz gleich, man denke sich irgendwas Klingendes aus. Nur lasst es empirisch belegt sein! Non-fiction! Wenn alles gut geht, darf der Patient nun glauben, mit dem folgenden Roman etwas zu tun zu haben, und von dessem vielfältigen Nutzen endlich überzeugt, ihm verzeihen, wenn er darüber hinaus gut unterhalten ist.
Tot und souverän
Unverhofft und darum besonders erfreulich sind die lang verschüttgeglaubten Kindheitserinnerungen. Eines Tages, mit einer fremden Vertrautheit, melden sie sich zurück, wie dies auch beim Wiedersehen mit ehemaligen Klassenkameraden vorkommen kann, an die zu denken es die längste Zeit keinen Grund gab. Das heißt, nein, man wusste jene Erinnerungen nicht einmal verschüttet und hatte keine Ahnung, ihrer zu entbehren. Plötzlich sind sie wieder da und wissen etwas Ungekanntes über dich zu berichten:
Im Alter von zehn oder elf Jahren las ich Gespenster- und Schauergeschichten. Zunächst die Comic-Reihe Gespenster Geschichten vom Bastei-Verlag (mit den Monsterporträts auf der ersten Seite), später die Gänsehaut-Romane von R. L. Stine, früh schon Stephen King, Dean Koontz, schließlich Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft. Nicht diese zwei Jahrzehnte zurückliegende Lektüre, vielmehr den jungen Leser beleuchtet nun das neue Licht einer plötzlichen Gewissheit: Damals schon war ihm die Vorstellung einer Rachsucht der Toten reichlich albern vorgekommen. Das allein wäre noch wenig bemerkenswert, wenn der Junge, Mitte der Neunziger auf St. Pauli heranwachsend und also aller mythischen Ehrfurcht bar, nur das Paranormale am Gespenst im Namen der Naturwissenschaften infrage stellte. Bemerkenswert ist, dass er die Rache aus dem Jenseits außerdem als psychologisch unsinnig empfand. Ungeduldig hatte er die Seiten umgeblättert, auf denen von hinterrücks Erschossenen, Erdrosselten, Vergifteten, Überfahrenen und in den Tod Gestürzten zu lesen war, die sich postum an ihren Mördern – Erbschleichern, Fahrerflüchtigen, Räubern, eifersüchtigen Ehemännern usw. – fürchterlich rächen. Man könnte frühe Abstumpfung als Grund für diese Indolenz nennen, und das Kind hätte sich diesem Urteil noch gleichgültig gefügt. Der Erwachsene jedoch wird zum Anwalt des unmündigen Angeklagten, der er einmal war: Von frühester Jugend an hatte ich also der Tyrannei der Lebenden abgeschworen! Dies ängstliche, kleinliche, schuldbewusste, eitle und in jeder Hinsicht egozentrische Andenken, der Tote müsse doch jedenfalls noch die offene Rechnung im Diesseits begleichen, ehe er seinen Frieden im Jenseits finden könne. Solch materialistische Stumpfheit kränkt die Vorstellungskraft des Kindes, wenn das metaphysische Moment der Geistererscheinung für lächerlich erklärt wird, nicht aber die merkwürdig weltlichen Beweggründe des Rachegeistes. Die Toten, weiß der Zehnjährige, sind über alle Belange des Lebens erhaben, ja dem Leben insgesamt enthoben, und im Augenblick ihres Todes bereits versöhnt. Voller Trauer, Angst, Gram, Verlust- und Schuldgefühle ist nicht der Tote, sondern sind die Hinterbliebenen. Projektion nennt die Psychologie, was sich vielleicht nirgends besser beobachten lässt, als im Umgang der Lebenden mit den Toten, die sie betrauern – und als ihre Richter fürchten.
Das kleinste Teilchen Selbstwert
Davon ausgehend, dass das Leben keine Frage sei, die der Mensch zu beantworten hätte; oder eine weiße Leinwand, geschichtlich gerahmt und bemalt in den individuellen Farben zweier ewig asynchroner Pinsel, den des subjektiven Willens und den des objektiven Zufalls; überhaupt jeden Sinn des Lebens inklusive eines Potentials zur Sinnhaftigkeit als unbegründet zurückweisend, gelangen wir schließlich zur melancholischen Auffassung vom Leben als ein leidlich interaktiver und schlecht erzählter schlechter Witz. Wo alle Welt weint, kann der Schwermütige lachen, aber nicht weil er zynisch wäre: Er sieht all die schönen Pointen. In diesen Pointen liegt die unteilbare Qualität, ja die Würde des Menschen. Es ist die Entdeckung der charmanten Nichtigkeit und amüsanten Ziellosigkeit allen Lebens; der Körper ein Theaterrequisit, das immer schon kaputt ist; die Bühne eine wild zusammengestückelte Landschaft wahllos pittoresker und trister Striche, deren stumpfe Gleichgültigkeit nur denen majestätisch und gewaltig dünkt, die sie stets im Rücken haben. Besitz ist Einbildung, ein feudaler und bürgerlicher Fiebertraum; Ruhm wesentlich Abhängigkeit von der wankelmütigen Gunst Unbekannter; Ehre der Ariadnefaden, der sich wie von selbst abwickelt auf den Irrgängen durchs Leben; Würde: so mühelos aus der Vita eines Menschen gerissen wie die Flügel aus dem Fliegenleib. Gesundheit! Gesundheit ist ja schon der halbe Witz: Ein unerbittliches Mindesthaltbarkeitsdatum, natal eingeschrieben in die warmen Eingeweide des Eisengolems und vor ihm verborgen, während unablässig der Rost an ihm frisst. So ergeht es auch den Freunden, den Liebsten – könntest du in ihren Eingeweiden wühlen, um ihren Tag und ihre Stunde zu erfahren, würdest du es tun? Und wärst du so töricht, hättest du Gewissheit? Trotz alledem, vergiss nicht, fliegt uns doch unbeirrt die Welt um die Ohren; einem Sturm gleich, der abreißt, umstürzt, fortträgt. Alles ist flüchtig.
Oder etwa nicht? Jeder Mensch könnte doch ruhig wissen: Er ist jederzeit und überall konsequent und unverwechselbar das individuelle Moment im universellen Ganzen; eine Art kosmischer Botschafter, der just diese von ihm jeweils beanspruchten Koordinaten in Raum und Zeit in seinem und mit seinem Bewusstsein vertreten hat und vertreten wird. In ihm selbst aber liegt ein Geheimnis; kein Sinn oder Schlüssel, sondern eine mögliche Pointe. Ein organisches Lächeln im anorganischen Dunkel. Was könnten wir dem Leben mehr abringen als dies? Ein gut erzählter schlechter Witz – und die Pointe stellen wir selber.
Shit happens
Michel Butor hat in einem Interview einmal bemerkt: »Die Zeit wird erlebt wie etwas, das man ausscheidet.« Stimmt – gefühlsmäßig. Im Grunde wissen wir aber genau, wer hier wen tatsächlich ausscheidet.
Vernunftgründe
Der vernünftige Mensch sagt so oft Nein, dass er bald Ja sagt, wo er eben noch verneinte; die Vernunft selbst ist es, die eines Tages dieses Ja gebietet – und jedes vernunftvolle Nein zuvor hätte daran mitgewirkt, ja, darauf hingearbeitet. Bescheidenheit, Genügsamkeit, Entsagung und Demut sind zwar Produkte der Vernunft, aber das Umschlagen in ihre Gegenteile ist nicht weniger vernünftig; es markiert lediglich die Entdeckung der menschlichen Freiheit. Nichts anderes nannte Nietzsche den »Willen zur Macht«.
Analog dazu: »You either die a hero, or you live long enough to see yourself become the villain«1 ist psychisch bedingt und bereits im Heldentum enthalten, denn: »Ein Held ist bloß ein Mensch, der zu einem Exzess fähig ist.«2 Dieselbe innere Spannung schießt beim Helden ins Vertikale der hohen Tat, beim Schurken ins Horizontale einer allzu breiten Freiheit angesichts Myriaden dunkler Möglichkeiten. Die Entwicklung vom Helden zum Schurken bedarf daher keines äußeren Einflusses und ist im Individuum angelegt. Ist aber die Verbindung zwischen Held und Schurke uni- oder bidirektional?
1. The Dark Knight (2008, Regie: Christopher Nolan)
2. Spoorloos (1988, Regie: George Sluizer)