Tot und souverän

Unverhofft und darum besonders erfreulich sind die lang verschüttgeglaubten Kindheitserinnerungen. Eines Tages, mit einer fremden Vertrautheit, melden sie sich zurück, wie dies auch beim Wiedersehen mit ehemaligen Klassenkameraden vorkommen kann, an die zu denken es die längste Zeit keinen Grund gab. Das heißt, nein, man wusste jene Erinnerungen nicht einmal verschüttet und hatte keine Ahnung, ihrer zu entbehren. Plötzlich sind sie wieder da und wissen etwas Ungekanntes über dich zu berichten:

Im Alter von zehn oder elf Jahren las ich Gespenster- und Schauergeschichten. Zunächst die Comic-Reihe Gespenster Geschichten vom Bastei-Verlag (mit den Monsterporträts auf der ersten Seite), später die Gänsehaut-Romane von R. L. Stine, früh schon Stephen King, Dean Koontz, schließlich Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft. Nicht diese zwei Jahrzehnte zurückliegende Lektüre, vielmehr den jungen Leser beleuchtet nun das neue Licht einer plötzlichen Gewissheit: Damals schon war ihm die Vorstellung einer Rachsucht der Toten reichlich albern vorgekommen. Das allein wäre noch wenig bemerkenswert, wenn der Junge, Mitte der Neunziger auf St. Pauli heranwachsend und also aller mythischen Ehrfurcht bar, nur das Paranormale am Gespenst im Namen der Naturwissenschaften infrage stellte.  Bemerkenswert ist, dass er die Rache aus dem Jenseits außerdem als psychologisch unsinnig empfand. Ungeduldig hatte er die Seiten umgeblättert, auf denen von hinterrücks Erschossenen, Erdrosselten, Vergifteten, Überfahrenen und in den Tod Gestürzten zu lesen war, die sich postum an ihren Mördern – Erbschleichern, Fahrerflüchtigen, Räubern, eifersüchtigen Ehemännern usw. – fürchterlich rächen. Man könnte frühe Abstumpfung als Grund für diese Indolenz nennen, und das Kind hätte sich diesem Urteil noch gleichgültig gefügt. Der Erwachsene jedoch wird zum Anwalt des unmündigen Angeklagten, der er einmal war: Von frühester Jugend an hatte ich also der Tyrannei der Lebenden abgeschworen! Dies ängstliche, kleinliche, schuldbewusste, eitle und in jeder Hinsicht egozentrische Andenken, der Tote müsse doch jedenfalls noch die offene Rechnung im Diesseits begleichen, ehe er seinen Frieden im Jenseits finden könne. Solch materialistische Stumpfheit kränkt die Vorstellungskraft des Kindes, wenn das metaphysische Moment der Geistererscheinung für lächerlich erklärt wird, nicht aber die merkwürdig weltlichen Beweggründe des Rachegeistes. Die Toten, weiß der Zehnjährige, sind über alle Belange des Lebens erhaben, ja dem Leben insgesamt enthoben, und im Augenblick ihres Todes bereits versöhnt. Voller Trauer, Angst, Gram, Verlust- und Schuldgefühle ist nicht der Tote, sondern sind die Hinterbliebenen. Projektion nennt die Psychologie, was sich vielleicht nirgends besser beobachten lässt, als im Umgang der Lebenden mit den Toten, die sie betrauern – und als ihre Richter fürchten.

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