Paranoia

Wenig einfühlsam der Psychiater, vermutlich ein Franzose,¹ der den Begriff Verfolgungswahn neben den der Paranoia gestellt hat. Wer bloß fiebert, verfolgt zu werden und also auf der Flucht ist, der darf einer inneren Logik nach noch leise hoffen, davonzukommen. Dasjenige, vor dem zu flüchten wäre, ist jedoch omnipräsent. Was überall ist, das hat keine Topographie; dem ist geographisch nicht zu entkommen. Das Gefürchtete liegt nie exklusiv hinter² dem Paranoiden, sondern entweder als etwas vage Antizipiertes vor ihm (zeitlich), oder als akut Empfundenes um ihn (räumlich). Paranoia bedeutet im Kern: Wohin ich auch gehe, sie warten schon auf mich. Erwartungs- statt Verfolgungswahn.


1 In Meyers Konversations-Lexikon von 1905 findet sich unter ›Verfolgungswahn‹ der direkte Hinweis auf ›Délire de persécution‹.
2 Der gehetzte Blick über die Schulter, der wirklich bei Paranoiden zu beobachten ist, mag die Assoziation des Verfolgtseins eingegeben haben. Es gibt jedoch nur einen Grund, warum hinter die bedrohlichste aller Präpositionen ist: ohne den Kopf zu wenden, liegt hinten stets außerhalb unseres Gesichtsfelds. Der Blick zurück bedeutet für den Paranoiden lediglich eine kurze Unterbrechung seiner Wachsamkeit vorn; tatsächlich schafft er sich für diesen kurzen Schreckensmoment bloß ein neues Hinten, nämlich was zuvor Vorn gewesen ist. Er wünschte, er wäre Argos – ohne zu ahnen, dass er dann das Unsichtbare fürchtete.

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